Helene Ritscher, die Witwe von Edwin Scharff

Rolf Italiaander

AKZENTE
eines Lebens


»Ich liebe die Kunst wie die Religion«
 H. R.

Wenige Wochen vor ihrem Tode (27. November x964) war Ilonka bei uns im Bauernhaus in Rade. »Krona«, die Witwe des Malers Fritz Kronenberg, hatte sie herausgefahren. Die kleine, zierliche alte Dame sah infolge grauen Stars sehr schlecht und ging am Stock. Aber ihre Bresthaftigkeit merkte man ihr kaum an. Sie hatte außer einem großen Herzen einen ungewöhnlichen Willen. Wie eine Gutsherrin schritt sie langsam durch das niedersächsische Fachwerkhaus, danach durch den Garten, freute sich hier über irgend etwas oder kritisierte dort und amüsierte sich mit den Schafen. Sie liebte das Landleben. In ihrem hohen Alter litt sie noch mehr als früher darunter, dass sie jetzt meistens in einer großen Stadt leben musste; denn in Kampen auf Sylt hatte sie keine Haushaltshilfe mehr. Auch sehnte sie sich mehr denn je zuvor nach der ungarischen Heimat. Ein junger österreichischer Architekt war mit uns. Beim Kaffeetrinken fragte ich ihn beiläufig, woher er Stämme. Er sagte: »Aus Eisenstadt!« Da riss Ilonka die Augen auf und sah den Tischnachbarn böse an, als habe er die infamste Gemeinheit gegen sie geschleudert. Dann ballte sie die Hand zur Faust, auf die sie ihr Kinn stützte, und machte einen verkniffenen Mund, als wollte sie ihn nie wieder öffnen. Alle am Kaffeetisch Sitzenden befiel Beklemmung. Uns war frostig zumute. Wir verstanden nicht, was geschehen war. Nach längerem Schweigen fragte ich: »Ist dir nicht wohl, Ilonka?« Sie antwortete: »Lass nur. Es ist schon gut.« Wieder wagte eine Weile niemand, etwas zu sagen. Plötzlich erhob sie sich und sagte — als ehemalige Schauspielerin hatte sie manchmal eine theatralische Art —, den Blick zur Decke gerichtet: »Das ist es eben, was ich nicht ertragen kann. Da sagt dieser Herr: Eisenstadt. Dabei heißt doch mein Heimatort Kismarton. Nein, diese Welt ist nicht mehr die meine!« Dann setzte sie sich wieder. Nun wussten wir wenigstens, was sie verstimmt hatte. Uns wurde leichter ums Herz. Die Konversation nahm langsam wieder ihren Fortgang, schließlich beteiligte sie sich auch selbst daran, und der Zwischenfall wurde vergessen. Wir ließen sie von ihrer Kindheit und Jugend in Ungarn plaudern. jetzt blühte sie auf, wurde heiter, übermütig. Sie erzählte, dass sie viele Bräuche der Heimat ihr ganzes Leben lang beibehalten habe. Kokett hob sie ihren Rock, löste ihre langen Wollstrümpfe und zeigte uns, dass sie in den Kniekehlen gegen Rheumatismus ungewaschene Schafwolle trug. Zwischen der Unterwäsche und der Haut des Oberkörpers dagegen hatte sie ein schwarzes Katzenfell. Sie war jetzt eine Bauersfrau, welche jüngeren gute alte Geheimnisse anvertraute. Auch ihr bewährtes Rezept, im Hause, und sogar im Bett, häufig eine Schafwollmütze zu tragen, ist allen an Kopfschmerzen oder Rheumatismus Leidenden zu empfehlen. Erhebliche Schwierigkeiten hatte Ilonka mit ihren Augen. Nur riesige Buchstaben konnte sie in den letzten Jahren lesen. Sie hatte viele Kapazitäten konsultiert, sich aber nicht zu einer Operation entschließen können. Statt dessen hatte sie sich, als sie ein paar Monate vorher in ihrem Kampener Haus war, Meerwasser in Flaschen füllen lassen. Damit wusch sie sich mehrfach am Tag die Augen aus. Solches Wasser (»jodhaltig, jodhaltig!«) schickte sie mir in die Augenklinik, weil sie glaubte, auch dem Freunde damit helfen zu können. Sie war ein selten treuer Mensch, sehr anhänglich, immer bereit zu helfen. Wochenlang rief sie in der Klinik Tag für Tag an und fragte die Schwestern, wie es mir ginge. Nie ließ sie sich mit mir verbinden, weil sie nicht stören wollte. jeden Nachmittag kamen die Schwestern und richteten nur aus: »Ilonka hat angerufen und wünscht alles Gute!« Auch die Schwestern hatten Ilonka gern, obwohl sie nur ihre Stimme kannten. Ich lernte sie nach dem Kriege durch Edwin Scharff kennen, als ich seine Graphikmappe »Pferde und Reiter« zusammenstellte und herausgab. Hans Spegg und ich wohnten einen Sommer lang neben ihnen in Kampen auf Sylt. Als wir unsere Lebensmittelkarten verloren hatten, konnten wir regelmäßig bei Scharffs essen. Dabei hatten auch die Freunde nicht viel in der Speisekammer. Sie war Edwin Scharff eine unvergleichliche Lebensgefährtin. Ihre Kinder liebte sie »närrisch«. Sie hatte viele Ideale, die heute als altmodisch gelten. Flirts vor der Ehe kannte sie nicht, lehnte sie ab. Sie war puritanisch und liberal zugleich. Denn nie hätte sie es sich erlaubt, anderen in ihr Privatleben hineinzureden.  »Nur wenn du tolerant bist, kannst du das Leben überhaupt ertragen«, sagte sie. Von sich und ihren Nächsten forderte sie allerdings, was sie »ein diszipliniertes Leben« nannte. Scharffs hatten dieses Kampener Friesenhaus vor allem deshalb gekauft, weil in seinem Hof ein wundervoller alter Baum stand, den Edwin sehr liebte. Für die Erhaltung des Baumes und für sein Gedeihen hat Ilonka jahrzehntelang gekämpft wie um ein Kind. An der Grenze des Grundstücks stehen überdies einige alte Ulmen. Sie sollten von einem Nachbarn gefällt werden. Auch für die Erhaltung dieser Ulmen führte sie einen Kampf wie Michael Kohlhaas. Womit sie ganz recht hatte; denn Sylt ist sehr arm an Bäumen. Sie schrieb Brandbriefe an die Kultusminister von Schleswig Holstein und Hamburg. Sie bemühte Rechtsanwälte, Parteiführer, Pastoren. Als man für die Wünsche der alten Dame kein Verständnis hatte, zog sie sich eines Tages ihr schönstes Kleid an und erschien in der Hamburger Baubehörde bei dem damals amtierenden Oberbaudirektor Werner Hebebrand mit einem Veilchensträußchen und trug ihm verzweifelt und kämpferisch zugleich ihre Wünsche vor. Ihre stehende Rede war: »Bis wohin meine Ulmen reichen, soll auf Kampen nichts verändert werden.« Nach dem Tode Edwin Scharffs bezog sie eine kleine, moderne Wohnung nahe den Hamburger Kammerspielen in der Straße, die »Rutschbahn« heißt. Die Bewohner der Straße sammelten Unterschriften und wollten, dass die Straße umbenannt werde. Als einzige wehrte sie sich dagegen. »Rutschbahn ist ein herrlicher Name für eine Straße«, plädierte sie. Im übrigen sei das ganze Leben eine Rutschbahn. Wieder wendete sie sich an viele Amtspersonen und kämpfte. Vorläufig hat die Straße ihren Namen behalten. Sie war stolz darauf, dazu beigetragen zu haben. Nach einem Herzanfall brachte ihr Sohn Peter, der Bühnenbildner, sie in ein Krankenhaus, über das ich ihr einiges erzählt hatte. Als sie nach der nächtlichen Einlieferung am Morgen erwachte und die Wirkung einer Injektion vorbei war, fragte sie die Schwester, wo sie denn sei. Als der Name gefallen war, sprang sie aus dem Bett, zog sich an und sagte: »Hier bleibe ich keinesfalls. Hier habt ihr meinen Freund Italiaander geärgert.« Ilonka ließ sich, so krank sie war, in ein anderes Krankenhaus verlegen. Nein, eine bequeme Frau war sie nicht. Sie war katholisch. Aber auf ihre eigene Weise. Im katholischen Krankenhaus, in dem sie schließlich starb, verwahrte sie sich gegen das zu viele Singen der Schwestern. »Bei diesem ewigen Geplärre kann man nicht seinen Frieden mit Gott machen«, sagte sie. Zunächst staunte man immer, wenn man sie so drastisch und oft]: auch rechthaberisch reden hörte. Sie war eigenwillig, aber sie überzeugte. Sie war eine unvergleichliche Persönlichkeit. Wir, die wir sie gut kannten, liebten sie sehr. Über ihren Weggang kann uns nichts trösten. »Weggang«, schreibe ich. Sie hatte eine eigene Art zu formulieren. Das Wort »Tod« vermied sie. Wenn sie etwas über die Zeit nach dem Tode Edwins erzählte, begann sie immer: »Als der Scharff gegangen war . . .« Als ich (am 8.November 1964) im Radio gehört hatte, dass ihr geliebter Schwiegersohn Kurt Hirschfeld, der Regisseur und Intendant des Zürcher Schauspielhauses, gestorben war, rief ich sie an. Ich wollte nur wissen, ob sie die schlimme Nachricht schon bekommen hatte. Sie fragte: »Kannst du sofort kommen?« Ich tat so, als wüsste ich nicht, warum. Aber dann kam der Satz: »Der Kurt ist doch gegangen . . .« Ich blieb in jener Nacht lange  bei ihr. Sie sagte, sie sei nun die nächste. Ich ließ sie wieder aus ihrem Leben erzählen, was sie so gern tat. Wir kannten alle diese Geschichten schon, hörten sie indessen immer wieder gern. Für Ilonka war es wie ein Untertauchen in eine schöne Traumwelt. Mit achtzehn Jahren kam Helene Ritscher aus Kismarton nach Wien, studierte hier Musik und Schauspielkunst. Einer ihrer ältesten lebenden Freunde aus jener Zeit war der Schauspieler Rudolf Forster. Er berichtete mir nach ihrem Tode: »Sie war im Wiener Konservatorium die Lieblingsschülerin ihres Lehrers Roempler. Sie verblüffte ihn und uns Schüler durch ihre grandiose Begabung. Sie erlebte sozusagen vom Blatt alle dramatischen Akzente jeglicher Art.« Sie hatte schon früh Erfolge an der »Burg«. Dann kam sie nach Berlin, später nach München. Wenn sie an der Isar angekündigt wurde, war das Haus sofort ausverkauft. Sie hatte eine große Anhängerschaft. Dabei machte sie sich rar. Sie wählte nur Rollen, die sie Wort für Wort vertreten konnte. Ich hätte gern manchmal mitgeschrieben, wenn sie von Otto Brahm und Albert Steinrück, von Hugo von Hofmannsthal oder Heinrich Mann erzählte. Das wollte sie nicht. Dann verstummte sie. Wie viele Erinnerungen hat sie mit ins Grab genommen. Doch eine Geschichte ist mir in der Erinnerung haften geblieben. Sie spielte in der Uraufführung von Molnars »Liliom«. Tag für Tag veränderte sie selbst ihren Text. Immer neue Briefe gingen an ihren Landsmann Molnar mit der Bitte, ihre Textänderungen zu genehmigen. Molnar grollte zunächst über die Eingriffe der eigensinnigen Schauspielerin, gab aber immer wieder nach. Er sah ein, dass sie recht hatte, wenn sie auf Abänderungen bestand. Auch in ihrer Schauspielkunst war sie unbequem. Aber man respektierte sie stets. Wenn sie eine neue Rolle lernen musste, verschaffe sie sich viele Bücher, um sich mit dem Drama, seinem Thema und natürlich auch mit dem Dichter genauestens vertraut zu machen. Als sie die Marie in Büchners »Woyzeck« zu
 spielen hatte, reizte sie zwar die Aufgabe, aber sie wußte nicht, wie Huren sind und leben. In diesem Zusammenhang war es, dass sie mir erzählte, sie habe nie einen anderen Mann als Edwin Scharff gehabt. »Du hast aber die Rolle übernommen?« fragte ich. »ja«, sagte sie, »aber erst nachdem ich mich mit den Münchner Huren in Verbindung gesetzt hatte. Ich besuchte solche Frauen, sprach mit ihnen, erklärte  ihnen, warum ich so neugierig sei, trank mit ihnen Kaffee —— und dann konnte ich schließlich die Marie überzeugend spielen.«« Einer der allerersten, der sie in ihrer spontanen Genialität erkannte, war Herbert Ihering. Ich danke ihm, dass er in seinen alten Kritiken nachforschte und schließlich eine Kritik entdeckte, die er am 21. Dezember 1911 in der Berliner »Schaubühne« Siegfried Jacobsohns veröffentlichte. Ihering schrieb seinerzeit: »Im Schiller-Theater ist es die geniale, ungelenke Begabung Helene Ritschers, die ihre Umgebung weit hinter sich lässt. Helene Ritscher ist das beunruhigendste Talent des Nachwuchses. In ihr schlummern gefährliche Energien, die nach den gewagtesten Rollen verlangen. Ihr ganzes Wesen fiebert wie unter einem gewaltsamen Druck nach Entladung. Über ihren Gliedern liegt es wie eine unerträgliche Starre und Spannung, die sich im nächsten Augenblick lösen wird. Ihre Stimme zittert vor mühsamer Verhaltenheit und befreit sich stoßweise in grellen, schrillen Schreien. Ihre Kunst, unfertig, unausgegoren, hat etwas Unerwartetes, Überfallendes, Explosives. Dieses unregelmäßige, dämonische Temperament, diese von ihrer Rolle wie besessene Schauspielerin gehörte an Stelle des Fräulein Terwin zu Reinhardt. Am Schiller-Theater würde sie selbst dann fehl am Orte sein, wenn diese Bühne ihrer Aufgabe, vornehme und erste Volkskunst zu bieten, noch mit der früheren Sicherheit gerecht würde.« Auch Alfred Kerr schenkte der Debütantin schon früh seine Aufmerksamkeit. In dem 1917 in Berlin erschienenen 5. Band seiner gesammelten Schriften »Die Welt im Drama« schrieb Kerr: »Fräulein Ritscher sagt »bälohnän« und ist aus Ungarn; aber ein Talent.« Kerr an anderer Stelle: »Fräulein Ritscher gab die junge Frau. Einst wundervoll bei Strindberg. Dann lang im Gedächtnis haftend bei Hans Kayser . . . Jetzt schien sie gezähmt. Sie spricht allmählich deutsch; nicht mit der Betonung auf der ersten Silbe, ungarisch. Sie spricht eine hiesige Sprache. Doch sie lasse sich das Urwüchsige der ersten Überraschung und der ersten Herrlichkeit nicht schwinden. Nicht bürgerlich werden! Nicht in Reih und Glied rücken. Sondern Melodie haben — das ist alles. Und keine Furcht auf den Brettern haben: das ist noch mehr als alles.« Der Theaterkritiker und Chefredakteur Hermann Sinsheimer gedenkt in seinen Erinnerungen »Gelebt im Paradies« Helene Ritschers. Im Anschluss an eine Betrachtung über Elisabeth Bergner schreibt er: »Vor ihr schon und nach ihr war am  Staatstheater Helene Ritscher der Bergner im Wesen nicht unverwandt. Von den halberwachsenen Mädchen in Strindbergs »Ostern« zu Shaws »Cleopatra« und »Pygmalion« war sie eine hinreißende Darstellerin triebhafter Wesen bis zu den Fabel- und Traumwesen in Hauptmanns »Schluck und Jau« Sie war, ein seltener Fall, weder rollenhungrig noch erfolgssüchtig: mit drei Rollen im Jahr war ihr Bedarf gedeckt. Sie war neben der Bühne eine mindestens ebenso starke Persönlichkeit wie auf ihr.« Eine große Bewunderung hegte Oskar Kokoschka für sie. Im Juni 1957 schrieb er ihr eine Widmung: »Für die erste und herrlichste Darstellerin meiner Dramen, Helene Ritscher-Scharff, in Dankbarkeit und liebender Bewunderung.« Zu ihren alten Freundinnen gehörte die Witwe Frank Wedekinds, die erste Lulu in Wedekinds »Büchse der Pandora« Frau Tilly Wedekind war so liebenswürdig (obwohl sie selbst sehr leidend ist, sie starb am 21. April 1970 im Alter von 84 Jahren), mir auf meine Bitte hin einige Erinnerungen aufzuschreiben, Hier folgen sie: »Ilona! Nun bist Du auch nicht mehr! Wie habe ich mich gefreut, wenn ich Deine Stimme am Telefon hörte, wenn Du mich aus Hamburg anriefst oder gar in München warst! Wie lange kennen wir uns nun schon? Ein Leben lang! Ich wohnte zwanzig Jahre in der Prinzregentenstr. 50 — 10 Jahre mit Frank, 10 Jahre noch nach seinem Tod. Und Du wohntest Widenmayerstraße 50, erst allein, später mit Edwin Scharff. Zuerst sah ich Dich auf der Bühne. Als Cleopatra in »Cäsar und Cleopatra« mit Steinrück als Cäsar. — Eine Stimme vom Felsen herab: »Alter Herr«, und dann kam ein kleines, zierliches Persönchen herunter — es blieb mir unvergesslich! Was hatte sie für eine Ausdruckskraft, was für eine Grazie, welchen Charme! »Pygmalion« wieder mit Steinrück. Der Gegensatz zwischen seiner wuchtigen Persönlichkeit und ihrer zerbrechlichen Zierlichkeit! Und wie urwüchsig sie war! Mit welch eisernem Fleiß sie — die Ungarin — die deutsche Sprache beherrschte! Dann trafen wir uns häufig an der Elektrischen, Linie 30 (heute 20), wenn sie zur Probe fuhr und ich in der Stadt Besorgungen hatte. Dann war ihre Tochter Teta unterwegs, Peter, ihr Sohn, war schon da. Ich besuchte sie, sie fühlte sich nicht wohl; sie war allein — Scharfli war verreist —, und wir kamen so ins Plaudern, dass ich nach Hause telefonierte, dass ich über Nacht bei Ilona bliebe. Und die letzten Jahre trafen wir uns immer  wieder. Kaum war sie in München, rief sie an, kam zu mir zu Tisch oder ich zu ihr, oder wir aßen auswärts, oft auch mit meinem Schwager, Intendant H. C. Müller, der damals öfter in München spielte. Oder ich besuchte sie bei ihrem Sohn Peter, und wir saßen auf der herrlichen Terrasse in der Sonne. Wir erzählten uns von den Wechselfällen in den letzten Jahren. Von der schweren Zeit unter Hitler. Wedekind war verboten. Scharff hatte Arbeitsverbot, und sie waren von Berlin über Düsseldorf in Hamburg gelandet. Häufig waren sie in Kampen auf Sylt, wo sie ein Haus hatten. Eines Tages kam ein junger SS-Mann, um zu kontrollieren, ob Scharff auch nicht arbeitete. Ilona war allein; sie empfing den jungen Mann und sagte zu ihm: »junger Mann, ich könnte Ihre Mutter sein«, und sie hielt ihm unverblümt das Verabscheuungswürdige seiner Mission vor. Er war beeindruckt von soviel Zivilcourage und zog ab. Und nun kommst Du nicht mehr nach München — kleine Ilona! Ich vermisse Dich sehr!« Zu Ilonkas kleinem Freundeskreis in Hamburg gehörte die Verlegerin Hilde Claassen. Sie erinnert daran, daß Helene Scharff-Ritscher von Menschen, die ihr besonders gut gefielen, sagte: »Der ist aus meiner Gass’.« Hilde Claassen weiß auch eine Geschichte aus der Jugend Ilonkas zu berichten: »Es war am Wiener Burgtheater. Ilonka begann dort ihre Karriere mit einer kleinen Rolle in »Wilhelm Tell«: Als im vierten Akt der Aufführung des »Wilhelm Tell« der Landvogt auf die Bühne ritt, scheute sein Pferd und versuchte auszubrechen. Da fiel ihm eine kleine Hand in die Zügel und brachte das Pferd mit einer einzigen Geste zum Stehen. Und dann hörte man die anklagende Stimme der jungen Armgart, die, während sie mit der einen Hand das Pferd, mit der anderen ihre Kinder festhielt, die ganze Zeit hindurch vor dem Tyrannen stand und auch später nicht, wie es der Text fordert, vor ihm in den Staub fiel: »Nein, nein, du kommst nicht von der Stelle, Vogt, bis du mir Recht gesprochen. Falte deine Stirn, rolle die Augen, wie du willst. Wir sind so grenzenlos unglücklich, daß wir nichts nach deinem Zorn mehr fragen.« Einer der Großen — Josef Kainz oder Alexander Moissi? — fragte nach der Aufführung die Debütantin, woher sie die Macht beziehe, Rosse zu bändigen. »Aus Ungarn, wo ich zu Haus bin«, antwortete ihm die Kleine. Um Edwin Scharff und der Kinder wegen gab sie die erfolgreiche Bühnenkarriere auf. Ach ja, die Ehe mit Edwin Scharff!  Unser Freund war kein unkomplizierter Mensch. Er wie Ilonka haben mir häufig von jenem furchtbaren Tag erzählt, als ihm im Jahre 1938 (ebenso wie Emil Nolde und Karl Schmidt-Rottluff) Arbeitsverbot auferlegt wurde. Eines Nachmittags kam Edwin früher als sonst aus der Düsseldorfer Akademie nach Hause. Ilonka fragte: »Du kommst so früh heute?« Edwin antwortete: »Ich bin fristlos entlassen, darf nicht einmal mehr einen Pinsel oder einen Meißel anrühren.« An jenem Tage bekam sie ihren ersten Herzinfarkt, unter dessen Nachwirkungen sie lange Jahre schwer litt. Sie zogen sich damals nach Kampen auf Sylt zurück. Das alte Friesenhaus, das sie erwarben, bauten sie mit eigenen Händen zu einer einzigartigen Eremitage aus. Wenn es bloß so erhalten bliebe, wie diese beiden großen Künstler es vollendet und eingerichtet haben! Es ist ein Kleinod auf dieser Insel. Unvergesslich sind all die Abende, die wir hier gemeinsam verbrachten. Nach dem Kriege konnte Edwin Scharff endlich wieder arbeiten; er wurde von Friedrich Ahlers-Hestermann an die Landeskunstschule in Hamburg berufen. Aber es scheint mir, daß Ilonka an dem Neubeginn keine rechte Freude mehr hatte. Sie war innerlich verletzt, verwundet. Und solange Scharff lebte, schien sie mir älter als nach seinem Weggang. Sie hatte das Theater aufgegeben, um vollkommen Edwin Scharff zu dienen. Sie muss unter dem Verbot unsagbar gelitten haben, weil sie einerseits ihren Beruf sehr liebte und andererseits ihn eben deshalb aufgegeben hatte, um Scharff in seiner künstlerischen Entwicklung beizustehen. Mit seinem Weggang fiel sicherlich eine große Verantwortung von ihr. Und daher wohl wirkte sie nun jünger, lockerer und beschwingter. Wie alt mag Ilonka wohl geworden sein? Niemand weiß es so recht. Es geht die Legende, sie habe ihre Papiere alle paar Jahre verändert. Sie mag über achtzig gewesen sein. Vielleicht ging sie auf die neunzig? Aber das ist alles gleichgültig bei einer so ungewöhnlichen Frau, wie sie eine war. Auch zu ihrem Namen noch ein Wort. Ihr ungarischer Taufname war Ilona. Auf der deutschen Bühne nannte sie sich Helene. Edwin nannte sie Ilonka wie Vater und Mutter. Nur wenige Freunde durften sie gleichfalls Ilonka
 nennen. Auch darin war sie eigen. Wir, eine Handvoll Freunde, die vertrauten Kontakt mit dieser großen alten Dame aus Ungarn hatten, bewahren die Erinnerung an sie als einen höchst seltenen Schatz. Es ist schwer, ihre  unwiederholbare Persönlichkeit auf wenigen Seiten zu umreißen. Einmal eben war sie eine ungarische Herrin vom Lande, dann die blutvolle Komödiantin oder die zärtlichste, mütterlichste Freundin. In die deutsche Kulturgeschichte geht sie ein als die aus Ungarn stammende Schauspielerin, die auf dem deutschen Theater große Gestalten vorbildlos kreierte und spielte, nicht allein, weil sie die schauspielerische Begabung im Blut hatte, sondern weil sie ein Charakter mit einem klaren Weltbild war. Dann war sie obendrein die Lebensgefährtin eines der großen deutschen Bildhauer dieses Jahrhunderts, Mutter seines Sohnes Peter, des Bühnenbildners, seiner Tochter Tety, der Witwe Kurt Hirschfelds. Ilonka, du musstest weggehen, wie uns allen das eines Tages beschieden sein wird. Und doch spüren wir noch immer deine lebendige Gegenwart. Hab Dank, dass du uns deine Freundschaft geschenkt hast! Und das ungarische Rezept mit der Schafwolle und mit der Wollmütze werden wir immer gern anwenden. Die vielen Tauben der Rutschbahn warten allerdings vergebens, dass sich das Fenster öffne und Ilonka ihnen Körner auf den Balkon streue. (1965)