| Helene Ritscher, die Witwe von Edwin Scharff
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Rolf Italiaander
AKZENTE eines Lebens
| | | »Ich liebe die Kunst wie die Religion« H. R.
Wenige
Wochen vor ihrem Tode (27. November x964) war Ilonka bei uns im
Bauernhaus in Rade. »Krona«, die Witwe des Malers Fritz Kronenberg,
hatte sie herausgefahren. Die kleine, zierliche alte Dame sah infolge
grauen Stars sehr schlecht und ging am Stock. Aber ihre Bresthaftigkeit
merkte man ihr kaum an. Sie hatte außer einem großen Herzen einen
ungewöhnlichen Willen. Wie eine Gutsherrin schritt sie langsam durch
das niedersächsische Fachwerkhaus, danach durch den Garten, freute sich
hier über irgend etwas oder kritisierte dort und amüsierte sich mit den
Schafen. Sie liebte das Landleben. In ihrem hohen Alter litt sie noch
mehr als früher darunter, dass sie jetzt meistens in einer großen Stadt
leben musste; denn in Kampen auf Sylt hatte sie keine Haushaltshilfe
mehr. Auch sehnte sie sich mehr denn je zuvor nach der ungarischen
Heimat. Ein junger österreichischer Architekt war mit uns. Beim
Kaffeetrinken fragte ich ihn beiläufig, woher er Stämme. Er sagte: »Aus
Eisenstadt!« Da riss Ilonka die Augen auf und sah den Tischnachbarn
böse an, als habe er die infamste Gemeinheit gegen sie geschleudert.
Dann ballte sie die Hand zur Faust, auf die sie ihr Kinn stützte, und
machte einen verkniffenen Mund, als wollte sie ihn nie wieder öffnen.
Alle am Kaffeetisch Sitzenden befiel Beklemmung. Uns war frostig
zumute. Wir verstanden nicht, was geschehen war. Nach längerem
Schweigen fragte ich: »Ist dir nicht wohl, Ilonka?« Sie antwortete:
»Lass nur. Es ist schon gut.« Wieder wagte eine Weile niemand, etwas zu
sagen. Plötzlich erhob sie sich und sagte — als ehemalige
Schauspielerin hatte sie manchmal eine theatralische Art —, den Blick
zur Decke gerichtet: »Das ist es eben, was ich nicht ertragen kann. Da
sagt dieser Herr: Eisenstadt. Dabei heißt doch mein Heimatort
Kismarton. Nein, diese Welt ist nicht mehr die meine!« Dann setzte sie
sich wieder. Nun wussten wir wenigstens, was sie verstimmt hatte. Uns
wurde leichter ums Herz. Die Konversation nahm langsam wieder ihren
Fortgang, schließlich beteiligte sie sich auch selbst daran, und der
Zwischenfall wurde vergessen. Wir ließen sie von ihrer Kindheit und
Jugend in Ungarn plaudern. jetzt blühte sie auf, wurde heiter,
übermütig. Sie erzählte, dass sie viele Bräuche der Heimat ihr ganzes
Leben lang beibehalten habe. Kokett hob sie ihren Rock, löste ihre
langen Wollstrümpfe und zeigte uns, dass sie in den Kniekehlen gegen
Rheumatismus ungewaschene Schafwolle trug. Zwischen der Unterwäsche und
der Haut des Oberkörpers dagegen hatte sie ein schwarzes Katzenfell.
Sie war jetzt eine Bauersfrau, welche jüngeren gute alte Geheimnisse
anvertraute. Auch ihr bewährtes Rezept, im Hause, und sogar im Bett,
häufig eine Schafwollmütze zu tragen, ist allen an Kopfschmerzen oder
Rheumatismus Leidenden zu empfehlen. Erhebliche Schwierigkeiten hatte
Ilonka mit ihren Augen. Nur riesige Buchstaben konnte sie in den
letzten Jahren lesen. Sie hatte viele Kapazitäten konsultiert, sich
aber nicht zu einer Operation entschließen können. Statt dessen hatte
sie sich, als sie ein paar Monate vorher in ihrem Kampener Haus war,
Meerwasser in Flaschen füllen lassen. Damit wusch sie sich mehrfach am
Tag die Augen aus. Solches Wasser (»jodhaltig, jodhaltig!«) schickte
sie mir in die Augenklinik, weil sie glaubte, auch dem Freunde damit
helfen zu können. Sie war ein selten treuer Mensch, sehr anhänglich,
immer bereit zu helfen. Wochenlang rief sie in der Klinik Tag für Tag
an und fragte die Schwestern, wie es mir ginge. Nie ließ sie sich mit
mir verbinden, weil sie nicht stören wollte. jeden Nachmittag kamen die
Schwestern und richteten nur aus: »Ilonka hat angerufen und wünscht
alles Gute!« Auch die Schwestern hatten Ilonka gern, obwohl sie nur
ihre Stimme kannten. Ich lernte sie nach dem Kriege durch Edwin Scharff
kennen, als ich seine Graphikmappe »Pferde und Reiter« zusammenstellte
und herausgab. Hans Spegg und ich wohnten einen Sommer lang neben ihnen
in Kampen auf Sylt. Als wir unsere Lebensmittelkarten verloren hatten,
konnten wir regelmäßig bei Scharffs essen. Dabei hatten auch die
Freunde nicht viel in der Speisekammer. Sie war Edwin Scharff eine
unvergleichliche Lebensgefährtin. Ihre Kinder liebte sie »närrisch«.
Sie hatte viele Ideale, die heute als altmodisch gelten. Flirts vor der
Ehe kannte sie nicht, lehnte sie ab. Sie war puritanisch und liberal
zugleich. Denn nie hätte sie es sich erlaubt, anderen in ihr
Privatleben hineinzureden. »Nur wenn du tolerant bist, kannst du
das Leben überhaupt ertragen«, sagte sie. Von sich und ihren Nächsten
forderte sie allerdings, was sie »ein diszipliniertes Leben« nannte.
Scharffs hatten dieses Kampener Friesenhaus vor allem deshalb gekauft,
weil in seinem Hof ein wundervoller alter Baum stand, den Edwin sehr
liebte. Für die Erhaltung des Baumes und für sein Gedeihen hat Ilonka
jahrzehntelang gekämpft wie um ein Kind. An der Grenze des Grundstücks
stehen überdies einige alte Ulmen. Sie sollten von einem Nachbarn
gefällt werden. Auch für die Erhaltung dieser Ulmen führte sie einen
Kampf wie Michael Kohlhaas. Womit sie ganz recht hatte; denn Sylt ist
sehr arm an Bäumen. Sie schrieb Brandbriefe an die Kultusminister von
Schleswig Holstein und Hamburg. Sie bemühte Rechtsanwälte,
Parteiführer, Pastoren. Als man für die Wünsche der alten Dame kein
Verständnis hatte, zog sie sich eines Tages ihr schönstes Kleid an und
erschien in der Hamburger Baubehörde bei dem damals amtierenden
Oberbaudirektor Werner Hebebrand mit einem Veilchensträußchen und trug
ihm verzweifelt und kämpferisch zugleich ihre Wünsche vor. Ihre
stehende Rede war: »Bis wohin meine Ulmen reichen, soll auf Kampen
nichts verändert werden.« Nach dem Tode Edwin Scharffs bezog sie eine
kleine, moderne Wohnung nahe den Hamburger Kammerspielen in der Straße,
die »Rutschbahn« heißt. Die Bewohner der Straße sammelten
Unterschriften und wollten, dass die Straße umbenannt werde. Als
einzige wehrte sie sich dagegen. »Rutschbahn ist ein herrlicher Name
für eine Straße«, plädierte sie. Im übrigen sei das ganze Leben eine
Rutschbahn. Wieder wendete sie sich an viele Amtspersonen und kämpfte.
Vorläufig hat die Straße ihren Namen behalten. Sie war stolz darauf,
dazu beigetragen zu haben. Nach einem Herzanfall brachte ihr Sohn
Peter, der Bühnenbildner, sie in ein Krankenhaus, über das ich ihr
einiges erzählt hatte. Als sie nach der nächtlichen Einlieferung am
Morgen erwachte und die Wirkung einer Injektion vorbei war, fragte sie
die Schwester, wo sie denn sei. Als der Name gefallen war, sprang sie
aus dem Bett, zog sich an und sagte: »Hier bleibe ich keinesfalls. Hier
habt ihr meinen Freund Italiaander geärgert.« Ilonka ließ sich, so
krank sie war, in ein anderes Krankenhaus verlegen. Nein, eine bequeme
Frau war sie nicht. Sie war katholisch. Aber auf ihre eigene Weise. Im
katholischen Krankenhaus, in dem sie schließlich starb, verwahrte sie
sich gegen das zu viele Singen der Schwestern. »Bei diesem ewigen
Geplärre kann man nicht seinen Frieden mit Gott machen«, sagte sie.
Zunächst staunte man immer, wenn man sie so drastisch und oft]: auch
rechthaberisch reden hörte. Sie war eigenwillig, aber sie überzeugte.
Sie war eine unvergleichliche Persönlichkeit. Wir, die wir sie gut
kannten, liebten sie sehr. Über ihren Weggang kann uns nichts trösten.
»Weggang«, schreibe ich. Sie hatte eine eigene Art zu formulieren. Das
Wort »Tod« vermied sie. Wenn sie etwas über die Zeit nach dem Tode
Edwins erzählte, begann sie immer: »Als der Scharff gegangen war . . .«
Als ich (am 8.November 1964) im Radio gehört hatte, dass ihr geliebter
Schwiegersohn Kurt Hirschfeld, der Regisseur und Intendant des Zürcher
Schauspielhauses, gestorben war, rief ich sie an. Ich wollte nur
wissen, ob sie die schlimme Nachricht schon bekommen hatte. Sie fragte:
»Kannst du sofort kommen?« Ich tat so, als wüsste ich nicht, warum.
Aber dann kam der Satz: »Der Kurt ist doch gegangen . . .« Ich blieb in
jener Nacht lange bei ihr. Sie sagte, sie sei nun die nächste.
Ich ließ sie wieder aus ihrem Leben erzählen, was sie so gern tat. Wir
kannten alle diese Geschichten schon, hörten sie indessen immer wieder
gern. Für Ilonka war es wie ein Untertauchen in eine schöne Traumwelt.
Mit achtzehn Jahren kam Helene Ritscher aus Kismarton nach Wien,
studierte hier Musik und Schauspielkunst. Einer ihrer ältesten lebenden
Freunde aus jener Zeit war der Schauspieler Rudolf Forster. Er
berichtete mir nach ihrem Tode: »Sie war im Wiener Konservatorium die
Lieblingsschülerin ihres Lehrers Roempler. Sie verblüffte ihn und uns
Schüler durch ihre grandiose Begabung. Sie erlebte sozusagen vom Blatt
alle dramatischen Akzente jeglicher Art.« Sie hatte schon früh Erfolge
an der »Burg«. Dann kam sie nach Berlin, später nach München. Wenn sie
an der Isar angekündigt wurde, war das Haus sofort ausverkauft. Sie
hatte eine große Anhängerschaft. Dabei machte sie sich rar. Sie wählte
nur Rollen, die sie Wort für Wort vertreten konnte. Ich hätte gern
manchmal mitgeschrieben, wenn sie von Otto Brahm und Albert Steinrück,
von Hugo von Hofmannsthal oder Heinrich Mann erzählte. Das wollte sie
nicht. Dann verstummte sie. Wie viele Erinnerungen hat sie mit ins Grab
genommen. Doch eine Geschichte ist mir in der Erinnerung haften
geblieben. Sie spielte in der Uraufführung von Molnars »Liliom«. Tag
für Tag veränderte sie selbst ihren Text. Immer neue Briefe gingen an
ihren Landsmann Molnar mit der Bitte, ihre Textänderungen zu
genehmigen. Molnar grollte zunächst über die Eingriffe der
eigensinnigen Schauspielerin, gab aber immer wieder nach. Er sah ein,
dass sie recht hatte, wenn sie auf Abänderungen bestand. Auch in ihrer
Schauspielkunst war sie unbequem. Aber man respektierte sie stets. Wenn
sie eine neue Rolle lernen musste, verschaffe sie sich viele Bücher, um
sich mit dem Drama, seinem Thema und natürlich auch mit dem Dichter
genauestens vertraut zu machen. Als sie die Marie in Büchners »Woyzeck«
zu spielen hatte, reizte sie zwar die Aufgabe, aber sie wußte
nicht, wie Huren sind und leben. In diesem Zusammenhang war es, dass
sie mir erzählte, sie habe nie einen anderen Mann als Edwin Scharff
gehabt. »Du hast aber die Rolle übernommen?« fragte ich. »ja«, sagte
sie, »aber erst nachdem ich mich mit den Münchner Huren in Verbindung
gesetzt hatte. Ich besuchte solche Frauen, sprach mit ihnen,
erklärte ihnen, warum ich so neugierig sei, trank mit ihnen
Kaffee —— und dann konnte ich schließlich die Marie überzeugend
spielen.«« Einer der allerersten, der sie in ihrer spontanen Genialität
erkannte, war Herbert Ihering. Ich danke ihm, dass er in seinen alten
Kritiken nachforschte und schließlich eine Kritik entdeckte, die er am
21. Dezember 1911 in der Berliner »Schaubühne« Siegfried Jacobsohns
veröffentlichte. Ihering schrieb seinerzeit: »Im Schiller-Theater ist
es die geniale, ungelenke Begabung Helene Ritschers, die ihre Umgebung
weit hinter sich lässt. Helene Ritscher ist das beunruhigendste Talent
des Nachwuchses. In ihr schlummern gefährliche Energien, die nach den
gewagtesten Rollen verlangen. Ihr ganzes Wesen fiebert wie unter einem
gewaltsamen Druck nach Entladung. Über ihren Gliedern liegt es wie eine
unerträgliche Starre und Spannung, die sich im nächsten Augenblick
lösen wird. Ihre Stimme zittert vor mühsamer Verhaltenheit und befreit
sich stoßweise in grellen, schrillen Schreien. Ihre Kunst, unfertig,
unausgegoren, hat etwas Unerwartetes, Überfallendes, Explosives. Dieses
unregelmäßige, dämonische Temperament, diese von ihrer Rolle wie
besessene Schauspielerin gehörte an Stelle des Fräulein Terwin zu
Reinhardt. Am Schiller-Theater würde sie selbst dann fehl am Orte sein,
wenn diese Bühne ihrer Aufgabe, vornehme und erste Volkskunst zu
bieten, noch mit der früheren Sicherheit gerecht würde.« Auch Alfred
Kerr schenkte der Debütantin schon früh seine Aufmerksamkeit. In dem
1917 in Berlin erschienenen 5. Band seiner gesammelten Schriften »Die
Welt im Drama« schrieb Kerr: »Fräulein Ritscher sagt »bälohnän« und ist
aus Ungarn; aber ein Talent.« Kerr an anderer Stelle: »Fräulein
Ritscher gab die junge Frau. Einst wundervoll bei Strindberg. Dann lang
im Gedächtnis haftend bei Hans Kayser . . . Jetzt schien sie gezähmt.
Sie spricht allmählich deutsch; nicht mit der Betonung auf der ersten
Silbe, ungarisch. Sie spricht eine hiesige Sprache. Doch sie lasse sich
das Urwüchsige der ersten Überraschung und der ersten Herrlichkeit
nicht schwinden. Nicht bürgerlich werden! Nicht in Reih und Glied
rücken. Sondern Melodie haben — das ist alles. Und keine Furcht auf den
Brettern haben: das ist noch mehr als alles.« Der Theaterkritiker und
Chefredakteur Hermann Sinsheimer gedenkt in seinen Erinnerungen »Gelebt
im Paradies« Helene Ritschers. Im Anschluss an eine Betrachtung über
Elisabeth Bergner schreibt er: »Vor ihr schon und nach ihr war am
Staatstheater Helene Ritscher der Bergner im Wesen nicht unverwandt.
Von den halberwachsenen Mädchen in Strindbergs »Ostern« zu Shaws
»Cleopatra« und »Pygmalion« war sie eine hinreißende Darstellerin
triebhafter Wesen bis zu den Fabel- und Traumwesen in Hauptmanns
»Schluck und Jau« Sie war, ein seltener Fall, weder rollenhungrig noch
erfolgssüchtig: mit drei Rollen im Jahr war ihr Bedarf gedeckt. Sie war
neben der Bühne eine mindestens ebenso starke Persönlichkeit wie auf
ihr.« Eine große Bewunderung hegte Oskar Kokoschka für sie. Im Juni
1957 schrieb er ihr eine Widmung: »Für die erste und herrlichste
Darstellerin meiner Dramen, Helene Ritscher-Scharff, in Dankbarkeit und
liebender Bewunderung.« Zu ihren alten Freundinnen gehörte die Witwe
Frank Wedekinds, die erste Lulu in Wedekinds »Büchse der Pandora« Frau
Tilly Wedekind war so liebenswürdig (obwohl sie selbst sehr leidend
ist, sie starb am 21. April 1970 im Alter von 84 Jahren), mir auf meine
Bitte hin einige Erinnerungen aufzuschreiben, Hier folgen sie: »Ilona!
Nun bist Du auch nicht mehr! Wie habe ich mich gefreut, wenn ich Deine
Stimme am Telefon hörte, wenn Du mich aus Hamburg anriefst oder gar in
München warst! Wie lange kennen wir uns nun schon? Ein Leben lang! Ich
wohnte zwanzig Jahre in der Prinzregentenstr. 50 — 10 Jahre mit Frank,
10 Jahre noch nach seinem Tod. Und Du wohntest Widenmayerstraße 50,
erst allein, später mit Edwin Scharff. Zuerst sah ich Dich auf der
Bühne. Als Cleopatra in »Cäsar und Cleopatra« mit Steinrück als Cäsar.
— Eine Stimme vom Felsen herab: »Alter Herr«, und dann kam ein kleines,
zierliches Persönchen herunter — es blieb mir unvergesslich! Was hatte
sie für eine Ausdruckskraft, was für eine Grazie, welchen Charme!
»Pygmalion« wieder mit Steinrück. Der Gegensatz zwischen seiner
wuchtigen Persönlichkeit und ihrer zerbrechlichen Zierlichkeit! Und wie
urwüchsig sie war! Mit welch eisernem Fleiß sie — die Ungarin — die
deutsche Sprache beherrschte! Dann trafen wir uns häufig an der
Elektrischen, Linie 30 (heute 20), wenn sie zur Probe fuhr und ich in
der Stadt Besorgungen hatte. Dann war ihre Tochter Teta unterwegs,
Peter, ihr Sohn, war schon da. Ich besuchte sie, sie fühlte sich nicht
wohl; sie war allein — Scharfli war verreist —, und wir kamen so ins
Plaudern, dass ich nach Hause telefonierte, dass ich über Nacht bei
Ilona bliebe. Und die letzten Jahre trafen wir uns immer wieder.
Kaum war sie in München, rief sie an, kam zu mir zu Tisch oder ich zu
ihr, oder wir aßen auswärts, oft auch mit meinem Schwager, Intendant H.
C. Müller, der damals öfter in München spielte. Oder ich besuchte sie
bei ihrem Sohn Peter, und wir saßen auf der herrlichen Terrasse in der
Sonne. Wir erzählten uns von den Wechselfällen in den letzten Jahren.
Von der schweren Zeit unter Hitler. Wedekind war verboten. Scharff
hatte Arbeitsverbot, und sie waren von Berlin über Düsseldorf in
Hamburg gelandet. Häufig waren sie in Kampen auf Sylt, wo sie ein Haus
hatten. Eines Tages kam ein junger SS-Mann, um zu kontrollieren, ob
Scharff auch nicht arbeitete. Ilona war allein; sie empfing den jungen
Mann und sagte zu ihm: »junger Mann, ich könnte Ihre Mutter sein«, und
sie hielt ihm unverblümt das Verabscheuungswürdige seiner Mission vor.
Er war beeindruckt von soviel Zivilcourage und zog ab. Und nun kommst
Du nicht mehr nach München — kleine Ilona! Ich vermisse Dich sehr!« Zu
Ilonkas kleinem Freundeskreis in Hamburg gehörte die Verlegerin Hilde
Claassen. Sie erinnert daran, daß Helene Scharff-Ritscher von Menschen,
die ihr besonders gut gefielen, sagte: »Der ist aus meiner Gass’.«
Hilde Claassen weiß auch eine Geschichte aus der Jugend Ilonkas zu
berichten: »Es war am Wiener Burgtheater. Ilonka begann dort ihre
Karriere mit einer kleinen Rolle in »Wilhelm Tell«: Als im vierten Akt
der Aufführung des »Wilhelm Tell« der Landvogt auf die Bühne ritt,
scheute sein Pferd und versuchte auszubrechen. Da fiel ihm eine kleine
Hand in die Zügel und brachte das Pferd mit einer einzigen Geste zum
Stehen. Und dann hörte man die anklagende Stimme der jungen Armgart,
die, während sie mit der einen Hand das Pferd, mit der anderen ihre
Kinder festhielt, die ganze Zeit hindurch vor dem Tyrannen stand und
auch später nicht, wie es der Text fordert, vor ihm in den Staub fiel:
»Nein, nein, du kommst nicht von der Stelle, Vogt, bis du mir Recht
gesprochen. Falte deine Stirn, rolle die Augen, wie du willst. Wir sind
so grenzenlos unglücklich, daß wir nichts nach deinem Zorn mehr
fragen.« Einer der Großen — Josef Kainz oder Alexander Moissi? — fragte
nach der Aufführung die Debütantin, woher sie die Macht beziehe, Rosse
zu bändigen. »Aus Ungarn, wo ich zu Haus bin«, antwortete ihm die
Kleine. Um Edwin Scharff und der Kinder wegen gab sie die erfolgreiche
Bühnenkarriere auf. Ach ja, die Ehe mit Edwin Scharff! Unser
Freund war kein unkomplizierter Mensch. Er wie Ilonka haben mir häufig
von jenem furchtbaren Tag erzählt, als ihm im Jahre 1938 (ebenso wie
Emil Nolde und Karl Schmidt-Rottluff) Arbeitsverbot auferlegt wurde.
Eines Nachmittags kam Edwin früher als sonst aus der Düsseldorfer
Akademie nach Hause. Ilonka fragte: »Du kommst so früh heute?« Edwin
antwortete: »Ich bin fristlos entlassen, darf nicht einmal mehr einen
Pinsel oder einen Meißel anrühren.« An jenem Tage bekam sie ihren
ersten Herzinfarkt, unter dessen Nachwirkungen sie lange Jahre schwer
litt. Sie zogen sich damals nach Kampen auf Sylt zurück. Das alte
Friesenhaus, das sie erwarben, bauten sie mit eigenen Händen zu einer
einzigartigen Eremitage aus. Wenn es bloß so erhalten bliebe, wie diese
beiden großen Künstler es vollendet und eingerichtet haben! Es ist ein
Kleinod auf dieser Insel. Unvergesslich sind all die Abende, die wir
hier gemeinsam verbrachten. Nach dem Kriege konnte Edwin Scharff
endlich wieder arbeiten; er wurde von Friedrich Ahlers-Hestermann an
die Landeskunstschule in Hamburg berufen. Aber es scheint mir, daß
Ilonka an dem Neubeginn keine rechte Freude mehr hatte. Sie war
innerlich verletzt, verwundet. Und solange Scharff lebte, schien sie
mir älter als nach seinem Weggang. Sie hatte das Theater aufgegeben, um
vollkommen Edwin Scharff zu dienen. Sie muss unter dem Verbot unsagbar
gelitten haben, weil sie einerseits ihren Beruf sehr liebte und
andererseits ihn eben deshalb aufgegeben hatte, um Scharff in seiner
künstlerischen Entwicklung beizustehen. Mit seinem Weggang fiel
sicherlich eine große Verantwortung von ihr. Und daher wohl wirkte sie
nun jünger, lockerer und beschwingter. Wie alt mag Ilonka wohl geworden
sein? Niemand weiß es so recht. Es geht die Legende, sie habe ihre
Papiere alle paar Jahre verändert. Sie mag über achtzig gewesen sein.
Vielleicht ging sie auf die neunzig? Aber das ist alles gleichgültig
bei einer so ungewöhnlichen Frau, wie sie eine war. Auch zu ihrem Namen
noch ein Wort. Ihr ungarischer Taufname war Ilona. Auf der deutschen
Bühne nannte sie sich Helene. Edwin nannte sie Ilonka wie Vater und
Mutter. Nur wenige Freunde durften sie gleichfalls Ilonka nennen.
Auch darin war sie eigen. Wir, eine Handvoll Freunde, die vertrauten
Kontakt mit dieser großen alten Dame aus Ungarn hatten, bewahren die
Erinnerung an sie als einen höchst seltenen Schatz. Es ist schwer,
ihre unwiederholbare Persönlichkeit auf wenigen Seiten zu
umreißen. Einmal eben war sie eine ungarische Herrin vom Lande, dann
die blutvolle Komödiantin oder die zärtlichste, mütterlichste Freundin.
In die deutsche Kulturgeschichte geht sie ein als die aus Ungarn
stammende Schauspielerin, die auf dem deutschen Theater große Gestalten
vorbildlos kreierte und spielte, nicht allein, weil sie die
schauspielerische Begabung im Blut hatte, sondern weil sie ein
Charakter mit einem klaren Weltbild war. Dann war sie obendrein die
Lebensgefährtin eines der großen deutschen Bildhauer dieses
Jahrhunderts, Mutter seines Sohnes Peter, des Bühnenbildners, seiner
Tochter Tety, der Witwe Kurt Hirschfelds. Ilonka, du musstest weggehen,
wie uns allen das eines Tages beschieden sein wird. Und doch spüren wir
noch immer deine lebendige Gegenwart. Hab Dank, dass du uns deine
Freundschaft geschenkt hast! Und das ungarische Rezept mit der
Schafwolle und mit der Wollmütze werden wir immer gern anwenden. Die
vielen Tauben der Rutschbahn warten allerdings vergebens, dass sich das
Fenster öffne und Ilonka ihnen Körner auf den Balkon streue.
(1965)
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